Prof. Uli Jäger, Leiter der Abteilung Global Learning for Conflict Transformation bei der Berghof Foundation in Tübingen. Honorarprofessor für Friedenspädagogik und Globales Lernen an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Von Uli Jäger

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, seine Ursachen, Verlaufsformen und die weltweiten Folgen sowie die damit einhergehenden kontroversen, oft polarisierenden Diskussionen im eigenen Land stellen die Friedensbildung vor neue Herausforderungen. Angezeigt sind Selbstreflexion und das gemeinsame Entwickeln von neuen Ansätzen, um vor allem junge Menschen in ihrer Alltagswelt adressieren zu können. Schulen sind dafür wichtige Orte. Für die Friedensbildung war und ist es dabei kein Widerspruch, sich einerseits mit aktuellen sicherheitspolitischen Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auseinanderzusetzen und andererseits an der grundlegenden Orientierung am Leitwert Frieden festzuhalten.

Aufgrund der langjährigen friedenspädagogischen Geschichte in Deutschland verfügt die Friedensbildung über Erfahrungen im systematischen Zusammendenken von individuellen, gesellschaftlichen und internationalen Perspektiven. Das Aufgreifen und Weiterentwickeln dieser Erfahrungen ist ein stetiger Lernprozess und beruht auf dem Zusammenspiel von Theorie und Praxis.

Fundamente der Friedensbildung

Die Begriffe Friedensbildung und Friedenspädagogik werden häufig synonym verwendet; dabei liegt der Schwerpunkt der konzeptionellen Entwicklung der Friedensbildung im formalen Bildungsbereich. Übergreifend versteht man in diesen pädagogischen Ansätzen Frieden als einen Prozess – immer brüchig und von Rückschritten bedroht. Frieden beginnt im Bewusstsein und im Alltag der Menschen und entsteht vor dem Hintergrund gelungener Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen, Gesellschaften und Staaten.

Der prozessuale Friedensbegriff von Johan Galtung hat die Friedenspädagogik seit Jahrzehnten bereichert (vgl. Galtung 1975). Gleichzeitig berücksichtigt Friedensbildung immer auch weiterführende Ansätze zur Friedensbegrifflichkeit aus der (Friedens-)Wissenschaft. Besondere Bedeutung hat dabei die intensive Diskussion bezüglich des Gegenüberstellens und Zusammendenkens von Sicherheits- und Friedenslogik. Und auch Friedenskonzepte aus anderen, nicht-westlichen Kontexten sind verstärkt aufzuarbeiten und für die Bildungspraxis fruchtbar zu machen.

In Zeiten der Friedlosigkeit sollte Friedensbildung den Meinungsbildungsprozess zum Umgang mit Gewalt und Krieg fördern und gleichzeitig die Vorstellungskraft der Menschen darüber stärken, welche positive Bedeutung der konstruktive, gewaltfreie Umgang mit Konflikten, Dialogbereitschaft und ein Friedensengagement für das eigene Leben und das der Mitmenschen haben können. „Ohne die Vermittlung einer umfassenden Friedenskultur verfehlen Erziehung und Bildung ihre Aufgabe, die jungen Menschen für die Welt von morgen vorzubereiten“, so Christoph Wulf, ein langjähriger friedenspädagogischer Impulsgeber (Wulf 2020: 213).

Die im Rahmen der Friedensbildung entwickelten Lernarrangements und -medien zielen darauf ab, jungen Menschen das gemeinsamen Nachdenken über Krieg und Gewalt, Konflikt und Frieden zu ermöglichen und zu erleichtern. Sie unterstützen bei der Suche nach einem eigenen inhaltlichen Standpunkt und einer diesbezüglichen Haltung. Sie fördern gleichzeitig das Verständnis und die Akzeptanz für Vielfalt (der Herkünfte, Meinungen, Interpretationen und Friedensvorstellungen). Die durch die Friedensbildung angestoßenen Lernprozesse sind ergebnisoffen.

Uli Jäger bei seinem Vortrag. Auf dem Podium Manuela Pietraß, Thomas Clausen und Stefan Kroll (v.l.n.r). © Christiane Deuse

Vor diesem Hintergrund bilden vier miteinander verwobene Zielvorstellungen das Fundament der Friedenspädagogik. Diese will:

  • die Wahrnehmung von Konflikten als Chance für positive Veränderung und damit die Befähigung zum konstruktiven Umgang mit Konflikten und zur respektvollen Auseinandersetzung mit dem oder den „Anderen“ fördern
  • das Erkennen der unterschiedlichen individuellen, sozialen und politischen Formen von (Alltags-)Gewalt bzw. der Faszination von Gewalt und damit die Förderung der Aufarbeitung individueller und kollektiver Gewalterfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart anregen
  • die Auseinandersetzung mit Ursachen sowie Begleit- und Folgeerscheinungen von Krieg und damit die Erarbeitung möglicher Handlungsansätze gegen Krieg auf individueller, gesellschaftlicher und internationaler Ebene ermöglichen
  • die Entwicklung von Visionen des Friedens und des gemeinsamen Zusammenlebens fördern sowie von Möglichkeiten, diese Visionen in praxisrelevante Schritte umzusetzen

Wenn (junge) Menschen die Chancen haben zu lernen, sich als handelnde und selbstbewusste Subjekte wahrzunehmen und Interesse daran finden, ein gemeinsames Zusammenleben in Frieden mitzugestalten, sind persönliche Entwicklungs- und gesellschaftliche Transformationsprozesse möglich.

Infrastruktur für Friedensbildung

Friedensbildung an Schulen wird in Deutschland seit Jahren von engagierten Menschen sowie unterschiedlichen Einrichtungen (z.B. Friedensorganisationen/NGOs, Jugendverbänden, Friedensforschungsinstituten, Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung, Friedensnetzwerken etc.) im Rahmen der nur knapp verfügbaren Ressourcen angeboten und weiterentwickelt. Zur Infrastruktur gehört in Baden-Württemberg die Servicestelle Friedensbildung oder die 2021 in Niedersachsen eingerichtete Koordinierungsstelle Friedensbildung. Seit 2015 berät das Team der Servicestelle Friedensbildung in Baden-Württemberg interessierte Lehrkräfte, erarbeitet Lernmedien und führt Fortbildungsveranstaltungen oder Schulprojekte durch. Das zugehörige Internetportal bietet Informationen und dient als Kommunikationsplattform. Grundlage für die Einrichtung der Servicestelle war eine gemeinsame Erklärung zur Stärkung der Friedensbildung, welche vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport sowie von 18 Organisationen und Initiativen aus der Friedensbewegung und -pädagogik unterzeichnet wurde. Ziel dieser Erklärung ist es, die Bedeutung der Friedensbildung in den Schulen zu betonen und sie in den Bildungsplänen als fächerübergreifendes Anliegen stärker zu verankern. Getragen wird die Servicestelle von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, der Berghof Foundation sowie dem Kultusministerium.

Es ist jedoch stets zu bedenken, dass Friedensbildung (noch) nicht systematisch in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung verankert ist. Es gibt in Deutschland keinen Lehrstuhl für Friedensbildung und keine systematische Förderung friedenspädagogischer Programm- und Projektlinien. Vor diesem Hintergrund wäre ein weiterer Ausbau der Infrastruktur für Friedensbildung ein notwendiges Zeichen der Zeit.

Herausforderungen für Friedensbildung

Wie erwähnt ist eine verstärkte Auseinandersetzung mit friedens- und sicherheitspolitischen Fragen auch in der Schule ein Gebot der Stunde. Es liegt vor allem an den Lehrkräften und Schulen, (nicht nur) den Spielraum der Bildungspläne zu nutzen, um aktuellen Fragen der Schüler*innen Raum zu geben und meinungsbildende Prozesse zu fördern. Das Bedürfnis nach Informationen, Orientierung und Handlungsmöglichkeiten ist groß. Dies zeigen die Fragen von jungen Menschen auf dem Online-Portal www.frieden-fragen.de.

Aus friedenspädagogischer Sicht sind mehrere Aspekte relevant und verlangen nach angemessenen Angeboten, um die Arbeit an Schulen zu unterstützen:

Zur Förderung von Friedensfähigkeiten

1. Konflikt- und Dialogkultur: Vertiefung langjähriger Erfahrungen mit Streitschlichtung, Konflikttransformation und Gewaltfreier Kommunikation

2. Empathie: Förderung der Empathieentwicklung mit Menschen im Krieg, auf der Flucht und am Zufluchtsort

3. Ambiguitätstoleranz: Hilfen beim konstruktiven Umgang mit Unsicherheit, Widersprüchlichkeit und Verschiedenheit

4. Selbstfürsorge: Beratung beim Schutz vor Überforderung, Ohnmacht sowie individueller und gemeinschaftlicher Orientierungssuche

Zur Förderung von Friedenskompetenz

5. Sicherheits- und Friedensperspektiven: Systematische Auseinandersetzung mit friedens- und sicherheitspolitischen Konzeptionen und Herausforderungen

6. Digitale Friedenspädagogik: Unterstützung beim Umgang mit Desinformation, Hatespeech und Verschwörungstheorien

7. Konfliktanalyse: Förderung der Informationsbeschaffung über Kriege und Konflikte sowie Einübung von Analysetools

Zur Förderung von Friedenshandeln

8. Orientierungshilfen: Inspiration durch die Auseinandersetzung mit Frieden als Wert und Handlungsorientierung im Alltag

Vor dem Hintergrund aktueller Kriege muss es der Friedensbildung künftig besser gelingen, zeitnahe Hintergrundinformationen zu Krisen und Kriegen so anzubieten, dass Jugendliche sie wahrnehmen und als hilfreich verstehen. Nur so kann vereinfachten Darstellungen, Fehlwahrnehmungen und Überforderungen bei der Informationssuche entgegengewirkt und eigene Meinungsbildung gefördert werden. Für diese und andere Fragen bedarf es neuer Kooperationen relevanter pädagogischer Ansätze und ihrer Akteure, sei es der Friedensbildung, der sicherheitspolitischen Bildung, der Bildung für nachhaltige Entwicklung oder der Menschenrechtspädagogik.

 

 

Literatur

Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975.

Wulf, Christoph: Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän, Weinheim/Basel 2020.

 

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