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Kritische Anmerkungen zum Ansatz des Kritischen Weißseins in der politischen Bildungsarbeit

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Rüdiger José Hamm, Jahrgang 1975, ist Diplom-Politologe.

Von Rüdiger José Hamm

Seit geraumer Zeit hat der Ansatz der Kritischen Weißseinsforschung (Critical Whiteness) Einzug in die deutschsprachige antirassistische und  rassismuskritische Bildungsarbeit[i] (Melter / Mecheril 2009) gehalten. In unterschiedlichen Bildungsformaten (Workshops, Fortbildungen und Trainings) werden Critical Whiteness-Kurse oft in Kombination mit Empowermentworkshops durchgeführt. Zum Ziel haben derartige Veranstaltungen einerseits für Weiße die Sichtbarmachung einer als sozialem Konstrukt definierten und privilegierten Weißen Position gegenüber einer (ohnmächtigen) Schwarzen bzw. People of Color (POC)-Position und andererseits die Stärkung von POC im Sinne der Herstellung eines geschützten Raums sowie der Konstruktion einer POC-Gemeinschaft und Geschichte.

In diesem Beitrag sollen einige Hauptaspekte der theoretischen Herangehensweise der Kritischen Weißseinsforschung und die Rezeption des Ansatzes in der politischen Bildungspraxis kritisch hinterfragt werden, da der Critical Whiteness-Ansatz mittlerweile eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland eingenommen hat. Dieser Umstand erscheint insofern erstaunlich, als dass Wulf D. Hund den Ansatz als „perspektivisch eingeschränkt“ bezeichnet und damit eher als ein Randphänomen innerhalb der Rassismusforschung verortet. Kritik am Ansatz wurde bereits von einigen Forscher_innen geäußert (Karakayali / Tsianos / Karakayali: 2012). Nora Räthzel zum Beispiel stellt zur Einteilung von Weiß und Schwarz / POC in der Kritischen Weißseinsforschung fest: „Der Rassisierung der Anderen wird die Rassisierung der dominanten Gruppe(n) gegenübergestellt (…) Solche Formulierungen kommen schon sehr nah an die Naturalisierung phänotypischer Merkmale, wenn selbst die Marginalisierten qua Hautfarbe unaufhebbar zur dominanten Gruppe erklärt werden. Was hier völlig fehlt, ist ein zentraler Punkt der Rassismusforschung, nämlich die Erkenntnis, dass es sich bei Rassismus um eine »relationale« Beziehung handelt. Das heißt: jemand, der oder die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext subordiniert ist, kann in einem anderen übergeordnet sein.“ (Räthzel 2012: 207).

Liegen hier also (ungewollt) rassistische Denk- und Handlungsweisen innerhalb des Ansatzes vor?

Critical was?

Die Kritische Weißseinsforschung hat um das Jahr 2005 breitere Öffentlichkeit in Deutschland erlangt und stammt ursprünglich aus us-amerikanischen Antirassismusdebatten der 1980er Jahre (Eggers / Kilomba / Piesche / Arndt 2005). Im Kern der Theorie steht die Annahme, dass Weißsein ein soziales Konstrukt darstellt, das die Macht von Weißen gegenüber Schwarzen und People of Color  legitimieren und aufrechterhalten soll. Weißsein sei ein Machtkomplex, der sich aus unterschiedlichen Aspekten wie Gender, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung etc. zusammensetze. Die rassifizierte Abstammung fungiert hierbei als eine Art Hauptwiderspruch. Der Ansatz möchte den Blick weg vom rassifizierten Anderen auf das Weiße Wir richten. Laut Susan Arndt ist Rassismus eine Strategie, mit der „Weiße aus einer weißen, hegemonialen Position heraus Schwarze und People of Color“ (Ebd.: 341) diskriminieren. Der Beginn des Weißseins als Machtposition wird im europäischen Kolonialismus verortet. Das während des Kolonialismus entstandene Wissen ist bis heute wirksam und prägt das Verhältnis von Weißen und POC bzw. rassistische Positionierungen.

Weiß vs. POC – ist doch so, oder?!

Die Konstruktion des Weißseins kommt notwendigerweise nicht ohne eine Konstruktion des Gegenüber, des Schwarzseins aus. Betrachtet man eine Definition von People of Color im deutschsprachigen Raum, die oft in der rassismuskritischen und antirassistischen Forschung und Bildungsarbeit unhinterfragt herangezogen wird, erscheint es erstaunlich, dass diese nicht bereits scharf kritisiert wurde. Kien Nghi Ha setzt den Begriff People of Color mit Schwarz gleich und definiert: „People of Color bezieht sich auf alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, indigene oder pazifische Herkünfte und Hintergründe verfügen.“ (Ha 2007:37). Unklar bleibt bei dieser Definition, was Ha unter „unterschiedlichen Anteilen“ versteht: ob diese Anteile sich auf eine biologische Abstammung oder kulturelle Herkunft – oder beides – beziehen. Im Prinzip wird hier eine imaginäre Gemeinschaft auf Basis rassifizierter Kriterien konstruiert. Die an anderer Stelle von Nora Räthzel kritisierte Naturalisierung des Verhältnisses von Weiß und Schwarz innerhalb des Critical Whiteness-Ansatzes wird auch hier deutlich. Mehr noch: Die Definition von Ha ist nicht nur rassifizierend und damit rassistisch, weil sie sich auf biologische Abstammungen und / oder Kultur bezieht, sondern sie ist zudem in sich unlogisch. Der Begriff „lateinamerikanisch“ zum Beispiel ist zu komplex, als ihn quasi als Schwarz oder POC zu bezeichnen. Nach dieser Definition, wäre der chilenische Ex-Diktator und Massenmörder Augusto Pinochet ein POC – und damit ein Opfer von Rassismus. Die vielfältige Geschichte der lateinamerikanischen Region in Bezug auf Rassismus, wird von Ha ignoriert.  Aber auch die deutsche Geschichte, Antisemitismus und die Shoah werden offensichtlich ignoriert: Alle Jüdinnen und Juden werden per Definition kurzerhand zu People of Color bzw. Schwarzen erklärt. Hiermit werden nicht nur Antisemitismus und Rassismus gleichgesetzt (Hamm 2010: 246ff.), sondern angesichts der historischen nationalsozialistischen Rassengesetzgebung drängt sich hier die Frage auf, was Ha unter „unterschiedlichen Anteilen“ – nicht nur –  bei Jüdinnen und Juden versteht? Zudem besaß und besitzt der Rassismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in Deutschland eine stark völkische Komponente, die mit einer ausschließlichen Betrachtung der deutschen Kolonialgeschichte nicht zu fassen ist (Poliakov 1993).

Folgen für die Praxis

Welche Konsequenzen hat das für die bildungspolitische Praxis? Zum Teil werden bei solchen Veranstaltungen die Teilnehmenden in zwei Gruppen eingeteilt: a) in die Weiße Gruppe, die sich mit Hilfe von moralischen Appellen und quasi mittels eines Schuldeingeständnisses ihrer privilegierten Rolle und der Tatsache bewusst werden soll, dass sie als Weiße die Rassist_innen, also die Täter_innen, sind und vom rassistischen System aufgrund des Weißseins profitieren; und b)  in die POC-Gruppe,die per Definition nicht rassistisch sein kann und sich in einem „geschützten Raum“ über Rassismuserfahrungen austauschen und empowern soll. Ab und an wird zudem eine Schwarze Geschichte (z.B. mit Rückgriff auf Malcolm X oder die deutsche Publikation „Farbe bekennen“ (Oguntoye /Opitz /Schultz 1997)) konstruiert, die eine imaginäre Gemeinschaft schaffen soll. Es wird also Identitätspolitik betrieben. Diese Vorgehensweise erzeugt (nicht nur) bei vielen Teilnehmenden Verwunderung bis hin zu Abwehr. Denn bereits die Einteilung in diese Gruppen ist problematisch, wenn Menschen sich nicht in Weiß oder POC einteilen lassen wollen oder können, was zum Beispiel bei Menschen mit bi- und multiethnischer Herkunft[ii] der Fall sein kann (Root 1992 und Olumide 2002). Zudem werden in derartigen Veranstaltungen zum Teil und in diverser Gemengelage auch verkürzt Ansätze aus der Intersektionalitätstheorie herangezogen und miteinander verwoben, jedoch nicht konsequent eingehalten, da Aspekte wie Gender, sozialer Status, Staatsangehörigkeit, sexuelle Orientierung etc. zwar erwähnt werden, aber eher als Nebenwidersprüche fungieren.

Im Resultat derartiger Veranstaltungen werden Menschen häufig überwältigt und verschreckt. Der Standard der politischen Bildung in Deutschland, der Beutelsbacher Konsens (Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und die Teilnehmendenorientierung), scheint nicht berücksichtigt zu werden.

Es gibt aber auch andere Folgen: Weiße benutzen die Auseinandersetzung mit Critical Whiteness als eine Art Beleg für die eigene vermeintlich kritische und bewusste Auseinandersetzung mit Rassismus. Der Theorie zufolge können sie aber gar nicht frei von Rassismus sein und besitzen unweigerlich eine Machtposition. Es verwundert schon, dass sich diese Menschen besonders häufig dadurch hervortun, dass sie anderen Redeverbote erteilen und paternalistisch erläutern, was es mit Rassismus eigentlich auf sich hat. Hiermit wird Dominanz über andere ausgeübt – gleich ob Weiß oder POC. Menschen, die sich nicht als POC definieren wird in der Regel unterstellt, das richtige Bewusstsein nicht erlangt und Rassismus internalisiert zu haben. Insofern ist fraglich, ob wirklich geschützte Räume hergestellt werden, wenn sich Menschen für die eigene Selbstdefinition rechtfertigen müssen oder ausgeschlossen werden, weil sie den anderen POC als „zu hell“ und damit Weiß erscheinen.

Zum Abschluss

Angesichts der Erkenntnisse in der politischen Bildung kann ein Ansatz weder antirassistischnoch rassismuskritisch sein, der auf moralischer Schuldzuweisung, der Konstruktion einer an rassifizierten Kriterien ausgerichteten imaginären Gemeinschaft im identitätspolitischen Sinne und der Missachtung der Komplexität der (deutschen) Geschichte sowie der Rassismusforschung basiert.

Polarisierungen zwischen Weißen und POC, die jedwede Diskussion im Keim ersticken, können keine konstruktiven antirassistischen Impulse setzen. Vor allem in Zeiten der öffentlichen Revitalisierung rassistischer Denk- und Handlungsweisen wäre es eher angebracht, den Schulterschluss mit allen Menschen zu suchen – unabhängig von ihrer Herkunft. Rassismus in Deutschland ist zu wirkungsmächtig und lebensbedrohend, als das er nicht konsequent bekämpft werden muss. Rassismus und Diskriminierung geht alle Menschen etwas an. Wir sind als Menschen alle davon betroffen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise.

Literatur

Arndt, Susan (2005): Mythen des weißen Subjekts: Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus, In: Eggers, Maureen Maisha / Kilomba, Grada / Piesche, Peggy / Arndt, Susan (Hrsg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: 341.

Diskussion Die Rezeption von Critical Whiteness hat eine Richtung eingeschlagen, die die antirassistischen Politiken sabotiert, In: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 575 / 21.9.2012.

Ha, Kien Nghi (2007): People of Color – Koloniale Ambivalenzen und historische Kämpfe, In: Ha, Kien Nghi / Lauré al-Samarai, Nicola / Mysorekar, Sheila (Hrsg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster: Seite 37.

Hamm, Rüdiger José (2010): >Antisemitismus< und >Rassismus<, in: Nduka-Agwu, Adibeli / Hornscheidt, Antje Lann (Hg): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt a.M.: 246ff.

Karakayali, Jule / Tsianos, Vassilis S. / Karakayali, Serhat und Ibrahim, Aida (2012): Decolorise it!

Melter, Claus / Mecheril, Paul (Hrsg.) (2009): Rassismuskritik. Rassismustheorie und –forschung, Schwalbach / Ts.

Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schultz, Dagmar (Hrsg.) (1997): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Frankfurt a. M.

Poliakov, Léon (1993): Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg.

Räthzel, Nora (2012): 30 Jahre Rassismusforschung. Begriffe, Erklärungen, Methoden, Perspektiven. In: Jäger, Margarete / Kauffmann, Heiko (Hrsg.), Skandal und doch normal. Impulse für eine antirassistische Praxis, Münster: Seite 207. 

 


[i] Die Debatte über die Unterschiede von Antirassismus und RAssismuskritik kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Zur Einführung siehe (Melter / Mecheril 2009).

[ii] Menschen mit biethnischer Herkunft bezieht sich auf Menschen, deren Eltern zwei sozial konstruierten Nationen / Ethnien angehören. Z.B. Deutsch-türkisch, deutsch – lateinamerikanisch, deutsch – afrikanisch, deutsch - asiatisch etc. Menschen mit multiethnischer Herkunft bezieht sich auf Menschen, deren Eltern mehreren sozial konstruierten ethnischen Gemeinschaften angehören. Z.B. Tiger Woods, dessen Vater afroamerikanischer, chinesischer und indigener (Native American) Herkunft ist und dessen Mutter thailandischer, chinesischer und niederländischer Herkunft ist (Root 1992) und Olumide (2002). 

 

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